Ums Vinyl ranken sich inzwischen mehr Mythen als um die Freuden des Tantra-Yoga. Plaste bringt Licht ins Dunkel. Vorab aber: Der Record Store Day unterstützt vor allem kleine Plattenläden, dies ist Wahrheit und kein Mythos und gut so.
Mythos: Vinyl ist schon immer was für ältere Herren
Vinyl ist die elektrische Eisenbahn der 10er Jahre. Stellt euch mal beim Record Store Day morgens in die Schlange und versucht euch an einer demographischen Analyse. Die Kernzielgruppe dürfte männlich und zwischen 45-65 Jahren sein. Babyboomer mit grauen Haaren und bauchengen Joy Division T-Shirts, die von Teens belächelt werden. Schlangestehen? Vor einem Plattenladen? Das fragen sich die 14-19 jährigen, ehemals Kernzielgruppe für Musik und Platten. Wenn unser Nachwuchs überhaupt für einen Augenblick für diesen skurillen Anblick von ihren Smartphones aufsieht. Im besten Fall wird den Schlangestehern dafür eine gewisse soziale Bedürftigkeit unterstellt. Der Vinyl-Shop als Suppenküche für die Best-Agers.
Wahrheit: Zwar versorgten sich auch die älteren Semester schon in den 60er und 70er mit Heino und Anneliese Rothenberger-Platten. Pop zielte aber in erster Linie auf die prallen Taschengeldportfolios der geburtenstarken Jahrgänge der 50er und 60er Jahre.
Mythos: Vinyl wird schon immer gesammelt.
Die Jack White Platte in weißem Vinly und Pfefferminzgeruch, mag man vlt. noch vorsicht auspacken. Aber der 4.234 Sampler mit Studio-Outtakes von Jimi Hendrix mit einer Psychedelic Cover Adaption, gestaltet von einer hippen Design-Agentur könnte ja mal was auf Discogs bringen. Vinyl, ist die Kunstsammlung des kleinen Mannes. Wozu soll ich eine Picture-Disc von David Bowies „Heroes“ auspacken und dazu den wertvollen Record Store Sticker zerstören? Jeder ordentliche Plattensammler besitzt den Song mindestens auf LP, CD, in digital oder Cassette, dazu auf diversen Samplern. Natürlich in der deutschen, englischen und französischen Version. Den Song braucht keiner mehr auf Vinyl zu hören. Die Platte ist fürs Regal. Direkt neben dem Kegelpokal und der Siegerurkunde von den Bundesjugendspielen 1989.
Wahrheit: Praktisch jeder talentfreie Erguss fand früher seinen Platz auf Vinyl. Nach der Adoleszenz bzw bei der Einführung der CDs landeten die meisten Platten in Pappkartons im Keller, staubten im Gästezimmer vor sich hin, fluteten die Flohmärkte oder fanden ihr Ende fein säuberlich getrennt im Altpapier und gelbem Sack.
Wozu soll ich eine Picture-Disc von David Bowie auspacken und dabei den wertvollen RSD-Sticker zerstören?
Mythos: Auf Vinyl werden nur Pralinen veröffentlicht.
Abba, AC/DC und die Allmann Brother machen den Anfang auf der diesjährigen Record Store Day -Liste. Sichere Banken, wenn die RSD-Platten überhaupt angehört werden. Auch die Vinyl-Abteilungen der Elektro-Märkte platzen vor Stones, Hendrix und Miles Davis Platten aus den Nähten. Wir müssen jetzt dringend reden liebe Nachwuchs-Plattensammler. Dieses schnöselige Angebot aus der leicht angegammelten Gourmet-Abteilung gibt es erst seit fünf Jahren.
Wahrheit: Früher wurde jeder Mist (s.o.) auf Vinyl veröffentlicht. Selbst in Haushalten, die als komplett bücherfreie Zone galten, standen mindestens acht Schallplatten gepresst aus echtem Vinyl. Sampler mit Schlager- und Operettenschmonzetten aus der Peter Alexander Show. Mindestens zwei Releases des früher völlig unhippen James Last mit Happysound-Adaptionen von Schlagerhits an die sich heute keiner mehr erinnern mag zierten die gemütlichen Wohnstuben unserer Eltern.
Mythos: Der Kauf ist praktisch risikofrei
Und schon wieder möchte ich Jimi Hendrix, Johnny Cash und Co bemühen. Die Musik auf 70% des neu gepressten Vinyls dürfte aus der Zeit stammen als der VW-Käfer noch das Familienautomobil No. 1 war. Jeder Kauf eine Erinnerung aus zweiter Hand. Knutschen im orange/ weißen Jugendzimmer auf dem Plattenteller dreht sich John Lennons „Imagine. Angeregte rotweinseelige Diskussionen über den Nato-Doppelbeschluß dazu selbstgedrehte Fluppen. Den Soundtrack gab das erste Rio Reiser Solo-Album. Jugendzentrum Sommer 1980: die neue Lederjacke voll mit Badges von englischen Punkbands, im Hintergrund „Monarchie und Alltag“ in der Dauerschleife. Alles schonmal gehört, alles schon mal gefühlt – Null Risiko. Echter Spaß stellt sich nur noch beim Staubwischen der Sammlung ein.
Wahrheit: Plattenkäufe waren ursprünglich risikioreiche Einschnitte in das Taschengeldbudget. Wer sich 1970 das letzte Beatles-Album bei der damals gültigen Preisbindung von 22 DM gekauft hat, müsste heute inflationsbereinigt 60€ dafür hinlegen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich verzweifelt versucht habe mir Pink Floyds „The Wall“ , Alan Parsons „Tales of Mysterie..“ oder Jethro Tulls „Heavy Horses“ schönzuhören.
Dafür gabe es natürlich auch echte Volltreffer – emotionale Soundtracks fürs Leben, die jetzt beim RSD wieder frisch gepresst erworben werden können. Womit sich ja wieder ein Kreis schließt und deshalb werde ich natürlich zum Record Store Day zum Soundservice, Villingen marschieren und mich mit anderen älteren Herrschaften um die Plattenstapel drängeln.
Related Content
Streaming kills the Vinyl Star – Wie sich Musikhören in den letzten Jahren verändert hat.