4. März 1977: Wayne County & the Explosions spielen als Vorband der Adverts im Roxy Club in London. County wirft zuerst eine Mülltüte auf die Bühne und stapft 5 Minuten später in viel zu engen Frauenkleidern ans Mikro. Es folgenden 60 Minuten pure Energie, Schweiß, der Geruch von Lederjacken und Haarspray, Blut, Rotze, Pogo und der ganz Scheiß und ich mitten drin im Auge des Orkans.. Nein, Quatsch Bananenmarmalade*:
Während Punk in London und New York explodierte informierte ich mich über die neue Bewegung auf der Popseite der HörZu. Ich las über eine Band namens Sex Pistols, die in England No. 1 waren, deren Song aber nie On Air gespielt wurde, die im nachmittags in TV rumpöbelten und deren Sänger von Schlägern mit Rasierklingen überfallen wurde. Im Radio lief dazu als beständiger Soundtrack irgendwas aus Fleetwood Macs Rumours und Hits aus den 60ern. Und obwohl ich keinen einzigen Ton eines Punktracks bis dato gehört hatte, wusste ich dass sich Punk viel richtiger anfühlte als der AOR-Brei von SWF 3.
Punk war die großartige Chance der ganzen Welt in den Arsch zu treten und an etwas teilzunehmen, das größer war als man selbst. Und das zusammen mit vielen anderen coolen Typen. Punk war Nihilismus pur mit aufgeschraubter DIY-Attüde im Rotznasenmodus. Auferstanden aus den Ruinen von 1968. Punk war links sein trotzdem über Hippies lästern. Progrock zutiefst verachten und trotzdem offen sein für NoWave Jazz Experimente. Selbstfindungstrips hippiedoof zu finden und Fanzines zu schreiben oder Bands zu gründen. David Bowie je nach Gesprächspartner cool zu finden oder als Altschluffi abzukanzeln. Und das schöne daran – um dieses System aus geheimen Codes aufzubauen, seine eigene Welt zu erfinden musste man nicht in New York-London- Paris-Munich wohnen. Diese Codes konnte sich jeder selbst ausdenken, jede Szene selbst verfeinern. Wie jede Jugendbewegung war Punk von den Ausstehenden, den Eltern, Lehrern und Amöbenhirnen absolut nicht zu durchschauen.
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Die ersten Szenen und der Musikstil entwickelten sich fast völlig unabhängig voneinander in New York und London. Die meisten US-Bands wie Televison oder der frühe Jonathan Richman waren stark rockorientiert und suchten die Nähe zu Velvet Underground. Ausnahme, die New York Dolls eine glamourös, trashige Transvestiten Version der Stones, die Anfang der 70er Jahre beschlossen sich für die nächsten 40 Jahre selbst zu reproduzieren. Wenn man sich heute man sich heute Look und Sound der ersten englischen Bands anschaut, erkennt man eine direkte Linie zu Glamrock, Powerpop und Bowie. Vor allem die zweite Generation der Punk Bands um Sham 69, Cockney Recjets oder 999 versuchte ihre Vorliebe für Slade gar nicht mehr zu kaschieren.
Die wichtigsten Typen
Johnny Rotten
Wurde von Malcom McLaren für die Sex Pistols gecastet. Die unterschrieben brav einen Vertrag bei der EMI und veröffentlichen am 27.11.1976 ihre Single “Anarchy in the UK”. Als am 1. Dezember Queen keinen Bock hatten bei der Bill Grundy Show aufzutreten durften die Pistols zusammen mit ihrer Entourage u.a. Siouxie Sioux in die Show. Die große Skandalnudel an jenem Nachmittag war allerdings Bill Grundy selbst, der sich nach allen Regeln der Kunst die Murmel geflutet hatte und die Pistols zu Obszönitäten hinreissen lies, wie “Shit” oder “Fuck” oder “alter geiler Mann”. Begriffe bei denen heutzutage keinem RTL2-Proll mehr die Bierdose auf dem Fliesentisch umfällt. Im stocksteifen Königreich war der Autritt ein Riesenskandal und Rotten wurde zur Ikone des Punks und Verkörperung des Bösen. Damit erobert Punk für einen Sommer die Lufthoheit in der Boulevardpresse. Zum letzten mal gewann Pop-Musik dadurch gesellschaftliche Relevanz und wurde zum Mainstream Tagesgespräch, sogar in Deutschland.
Richard Hell
Richard Hell war schon in den frühen siebzigern in der Bowery-Szene aktiv, wo er in Bands wie Television oder den Heartbraekers reüssierte. Schrieb zusammen mit Johnny Thunders und DeDe Ramone “Chinese Rocks” Malcom McLaren, damals Manager der New York Dolls wollte ihn unsprünglich als Sänger der Pistols casten. Punk war zu der Zeit in NY noch echter Punk, Hell konnte sich keine neuen Klamotten leisten lief in zerissenen T-Shirts herum und hatte keine Lust auf GB. Zur Strafe adaptierte McLaren seinen Look für die Sex Pistols und beglückte damit nachhaltig die europäischen Kids und Fußgängerzonenpunks bis heute.
Lou Reed
Ich will jetzt nicht auf dem „Godfather of Punk Mythos“ rumreiten, aber wer inmitten der 60er, als in San Francisco die ersten Blümchen sprossen, so dermaßen cool, schlecht gelaunt und verstörend wirkt, wer einen solchen Krach wie auf White Light/ White Heat veranstaltet, der darf auch als wichtige Punk Blaupause in einer Plaste-Liste erscheinen. Darüberhinaus führte er die Punk-Droge Speed/ Amphetamin in der Pop-Szene ein.
Die wichtigsten Platten
Ramones – Ramones
Die Melodien hätten auch auf einem frühen Beach Boys Album Platz gefunden. Aber nur wenn diese statt statt die Surfer zu mimen, Klebstoff geschnüffelt hätten. David Bowie, Iggy Pop oder ein fahrender Zirkus schleppte die Platte in London ein und jeder der sie hörte gründete mindestens eine Band oder kündigte seinen Bausparvertrag. Auf dem Cover: vier Boys mit Ponyschnitt und Corporate Design Dresscode, fast wie Kiss nur ohne gimpelige Clownsattüde. Wie alle guten Platten klingt auch „Ramones“ nach 40 Jahren frisch wie am ersten Tag. 1976 setzen die Ramones von Ramones übrigens die Rekordmenge von fast 6.000 Exemplaren ab was in diesem Jahr nur von Supertramp übertroffen wurde.
Slits – Untitled/ Cut
Eine Mädchen Teenager Band, allesamt Freundinen von irgendjemandem von The Clash oder den Sex Pistols. Gaben bereits ein Interview für den NME vor ihrem allerersten Auftritt und durften logischerweise auch im Vorprogramm der Punk-Granden spielen. Ihre ersten Konzerte waren zwangsläufig freie Improvisationen, da sie komplett ohne Kenntnisse ihrer Instrumente auskamen. Heute würde man wohl B-Promis zu ihnen sagen. Festgehalten sind ihre ersten Schritte auf Untitled, roher rumpeliger wilder Oberschülerpunk, eine Blaupause nur getragen von der Vision einer Musik und einer gesunden Portion Wut im Bauch. Weil die aber keiner wirklich anhören muss und kann, nenne ich hier noch ihr Meisterwerk Cut, in dem die Ideen mit Dub, Reggea und Dennis Bovells Produktionskünsten veredelt wurden.
Dead Kennedies – Fresh Fruit for Rotten Vegetables
Die Platte wurde ihrem Erscheinen im Musikmagazin Sounds zwar positiv besprochen, aber bereits 1980 als Anachronismus bezeichnet. Punk war dato musikalisch ausgelutscht. New Wave- und Postpunkbands lieferten monatlich aufregende Meisterwerke ab. Fresh Fruit aber war ein politisches geiferndes ätzendes Statement mit dem rasiermesserscharfen Gesang von Jello Biafra. In “California uber alles” stellt er einen bitterbösen Bezug zwischen verlogenen 68-Liberalismus im Orange County und Faschismus her. “Holydays in Cambodia” preist als Pendant zu “Holidays in the Sun” einen Erlebnis-Trip in Pol Pots Kambodscha an. Für diese Platte wurde der Begriff Hardcore Punk erfunden.
Sex Pistols – Never mind the Bollocks
Nach den ersten beiden Singles “Anarchy in the UK” und “God Save the Queen” gingen den Pistols langsam die Ideen aus. Fast pünktlich zum Ende des Skandaljahrs 1977 pimpte der ehemalige Tom Jones Produzent Bill Price das Liverepertoire der Pistols zu solidem breitbeinigen Hardrock auf. Sid Viscious gab dazu den gefährlichen Punk und durfte repräsentativ am Bass stehen. Das Album ist deshalb wichtig, weil es mit seinem Jamie Reed Cover, der Figur von Johnny Rotten den Pistols Skandalen zur einer Ikone des Punks wurde. Die Platte stand in den 80ern garantiert in jedem deutschen Jugendzentrum zwischen Ton Steine Scherbens „Keine Macht für Niemand“ “ und einer verrammelten Jimi Hendrix Platte.
Black Flag – Damaged
Greg Ginn und Chuck Dukowski holten sich den jungen Henry Rollins ins Studio und ließen ihn über ihre Basistracks singen. Ein Hulk der gemeinsam mit der schrabbigen Monstergitarre von Ginn den Energielevel mühelos im roten Bereich hielt. Muckibudenpunk. An Black Flag orientierten sich unzählige Hardcore Bands in den 80ern. Das amerikanische Flipside Magazin informierte dazu monatlich über die Grabenkämpfe zwischen Black Flag- und Adam and the Ants Fans. Black Flag ist in den USA ein Schädlingsbekämpfungsmittel. Hängengeblieben ist mir den Slogan der Flag Fans: Black Flag kills Ants on contact. Greg Ginn gründete zudem das Plattenlabel SST, das die interessantesten Bands gegen Ende der Dekade signete und damit den Grundstein für den Grunge-Hype legte.
Die wichtigsten Songs
Anarchy in the UK – Sex Pistols
Johnny Rotten bellt “I am an antichrist, i am an anarchist..” und jedem war klar, was damit gemeint war, es war so als würde dich dein eigenes Spiegelbild anbrüllen. “Anarchy..” war für viele die Stunde Null ihrer Sozialisation , vergiss dein ödes Jugendzimmer, schmeiß deine langweiligen Barclay James Harvest Platten in den Müll, zeige deinen Eltern den Stinkefinger (oder klau deiner Mutter das Haarspray).
Undertones – Teenage Kicks
Der Popsong so schlicht, so perfekt, so leidenschaftlich. John Peel ließ sich die ersten Worte “ Are Teenage Dreams so hard to beat..” auf seinen Grabstein gravieren. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
TNT – Züri brennt/ Kleenex- Die Matrosen
Steht stellvertretend für die vielen Band in der Schweiz, in Deutschland, in Schweden, Italien die wunderbare kleine DIY-Perlen produzierten. Die meisten sind heute leider vergessen.
Blitzkrieg Bop – Ramones
Blitzkrieg Bop kommt wirklich nur mit den sprichwörtlichen drei Akkorden aus. Seite 40 Jahren darf sich jeder der eine Punk-Band “aufmacht” darauf beziehen. Darf sich darauf berufen, dass eine gute Idee, viel Energie und eine Palette Dosenbier immer noch mehr bewirken als handwerklich bemühtes Geschrubbel.
The Stranglers – Walk on By
Die Stranglers gab es schon vor Punk. Sie trugen komische Frisuren, Schnauzbärte, hatten eine Doors Orgel, verordneten sich selbst ein Macho-Image und fesselten schonmal Musikjournalisten auf einen Stuhl. Kurz: sie waren die Parias der Szene. Dione Warwick bescherte die Kurt Bacharach Kompostion eine No.1 in UK. Issac Hayes butterte den Titel mit viel Soul zu einer 12min. Version auf. Finger weg von dem Track möchte man da einer Macho-Punk Band zurufen. Aber die Version der Stranglers greift den Kern des Stücks nicht an. J.J. Burnells Bass, mit dem normalerweise Äcker umgegraben werden, gibt den Song das Gerüst einer Stranglers Komposition. Das Orgelsolo könnte von Bacharach himself ausgedacht sein. Verfeinert mit dem leichten Mief einer Herrenumkleide brachte es das Stück immerhin auf Platz 21 der UK-Charts.
Wichtige Bücher
The Boy looked at Johnny- Julie Burchill/ Toni Parsons
Es gibt viele Bücher über Punk und ich wette, dass im Jubiläumsjahr noch einige hinzukommen. “The Boy looked at Johnny”, bereits 1978! veröffentlicht, ist kein Buch über Punk, es IST Punk. Die beiden NME Redakteure schuffen das literarische Pendant zu “Anarchy in the UK”. Die Einleitung beginnt mit “Bob Dylan brach sich den Hals! Zu schön um wahr zu sein. Ihre ehrliche Haut gerettet haben nur jene, die rechtzeitig die Kurve kratzen. Ein paar Hohepriester der weissen Jugendkultur -Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison erstickten an ihrer eigenen Kotze“. Zynisch, analytisch, mit beißendem Humor in Drei-Akkorde-Sprache rechnen die beiden nicht nur mit den degenerierten Helden der 60er ab. Auch die neuen Heroen, um die Pistols, Stranglers, Clash und die NY Szene wurden entlarvt und der Mythos Punk im Moment seines Aufkeimens zerschreddert. In keinem anderen Medium ist das Gefühl des Punk, das keine Helden, kein Estasblishment und keine Eitelkeiten duldet, so klar und deutlich artikuliert..
Jon Savage – England’s Dreaming: Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock
Jon Savage war beim legendären Bootskonzert des Pistols auf der Themse dabei. In “England’s Dreaming” findet ihr alles was zwischen 1975 zwischen dem “Sex” Laden von McLaren und der Auflösung der Pistols passiert ausführlich bis ausführlichst dokumentiert.
John Lydon – Anger is an Energy
Mit viel bitterem Humor, Zynismus und Lästereien beschreibt Lydon die Welt, die sich um die Punk Ikone dreht. Er spart aber auch nicht wertvollen Lebensweisheiten, z.B. sich regelmässig die Zähne zu putzen. Hier die Plaste Rezension
Legs Mc Neill/ Gillian McCain – Please Kill Me! Die unzensierte Geschichte des Punk
Die Geschichte der New Yorker GBGB-Szene als Oral History Story. McNeill und McCain haben die Protagonisten der Szene um die Ramones, Pattie Smith und Tom Verlaine interviewt und schneiden die einzelnen Sequenzen zu einer spannenden Erzählung. Old Heroes im Originalton.
Punk’s Dead
Jede ordentliche Jugendbewegung stirbt in dem Moment, in dem die Jugendlichen sich für Einbauküchen und Doppelhaushälften mehr interessieren als für die neue Single der TV Personalities. Und gerade eine so rotzfreche und auf den Augenblick focussierte Bewegung stinkt schneller als ein Fisch in der Sonne. Ist Punk nun seit 1978 tot, seit 1982, seit dem Selbstmord von Kurt Cobain oder starb der letzte Rest mit der Veröffentlichung der ersten Green Day Platte? Völlig Wurst.
Vor 30 Jahren schloß ich meinen Plaste Fanzine Beitrag “10 Jahre Punk” mit den Worten “Wir brauchen einen neuen Punk”. Wenn ich ehrlich bin, habe ich das Warten noch nicht aufgegeben.
Hier geht es zum Fanzine-Post von 1986
*Das Wanye/Jayne County Konzert habe ich wirklich gesehen aber eben nicht 1977 sondern 1992. War trotzdem super.
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